Bei Verkehrstunneln geht es nicht nur um technisch-bauliche Fragen. Sie verteilen auch den Zugang zu Mobilität – räumlich und zeitlich. Daher müssen Infrastrukturen in Zukunft insbesondere das Thema Zeit berücksichtigen.
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Wird in einer Stadt gebaut, entstehen Infrastrukturen, die über lange Zeit das Leben ihrer Bewohner und Besucher bestimmen. Linienhafte Strukturen erweisen sich als besonders dauerhaft: In alten Städten bewegen wir uns oberirdisch bis heute auf Straßenzügen, die bereits zu römischer Zeit oder im Mittelalter angelegt wurden. Kanalsysteme und Verkehrstunnel sind unterirdische Anlagen, die gleichfalls über einen sehr langen Zeitraum bestehen und Einfluss auf das oberirdische Leben ausüben.
Zeitwohlstand wird wichtiger
Was bedeutet „Zeit“ in diesem Zusammenhang? Damit meinen wir zum Ersten Fristen bei Planung und Bau, Instandhaltung und Erneuerung; zum Zweiten geht es darum, wie Infrastrukturen im Zeitverlauf überdauern und wirken, und zum Dritten, wie sie sich darauf auswirken, wie Nutzer und Bewohner Zeit nutzen und wahrnehmen und Zeit gewinnen oder verlieren.
„Für nachhaltige Zukunftsentwicklung
wird Zeitgerechtigkeit ein immer
gewichtigeres Kriterium.“
Viele Menschen weltweit arbeiten heute dafür, dass Gesellschaften, Städte und Kommunen inklusiv werden, den öffentlichen Raum gleichwertig erschließen oder – wie im deutschen Raumordnungsgesetz für Regionen – „gleichwertige Lebensbedingungen“ gewährleisten. Neben materieller Absicherung werden dabei die Absicherung von Zeitautonomie – das Recht auf Zeit – und Zeitwohlstand immer bedeutsamer. Für nachhaltige Zukunftsentwicklung wird damit Zeitgerechtigkeit ein immer gewichtigeres Kriterium.
Distanzen schrumpfen oder vergrößern
Unterirdische Mobilität ist weitgehend unabhängig vom „Darüber“. Aus den Großstädten der Welt sind Multifunktionstunnel, U-Bahnen und Autotunnel nicht mehr wegzudenken. Städte erweitern mit unterirdischen Verkehrssystemen ihre Kapazitäten für Mobilität und beschleunigen diese Verkehre. Gleichzeitig sind unterirdische Trassen nur punktuell zugänglich, dort, wo Stationen und Zufahrten sind. Unterirdische Zugänge sind aufwendiger als oberirdische und meist weitmaschiger und weniger flexibel als von Trassen unabhängiger Verkehr.
Wird eine neue U-Bahn-Linie gebaut, wird ihr Nutzen auch davon abhängen, inwiefern sie an den oberirdischen Verkehr angebunden ist oder diesen ersetzt (substituiert). Bei einer Substitution beschleunigt die neue U-Bahn-Linie zwar die Mobilität zwischen Haltepunkten, als ob der Raum geschrumpft wird; doch gleichzeitig wird das häufig engmaschigere oberirdische Netz ausgedünnt oder ersetzt. Folglich werden Menschen in unmittelbarer Umgebung der Haltestellen begünstigt, während sich die räumliche und zeitliche Erschließung für entfernte Bewohner verschlechtert. In diesem Fall sprechen wir von einer Torsion des Raumes: Näher liegende Orte geraten in eine zeitlich größere Distanz zueinander. Das Pariser Nahverkehrssystem, ausgerichtet auf das Stadtzentrum, repräsentiert beispielsweise die Torsion des Raumes.
„Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit bilden die Grundlage, um Infrastrukturen als Lebensadern einer zeitgerechten Stadt zu ermöglichen, an der alle partizipieren können.“
Das Ziel: eine Stadt der kurzen Wege für alle
So können insbesondere durch Substitution und/oder Vergrößerung der Maschenweite der Haltepunkte raumzeitliche Lücken in der Anbindung an den Nahverkehr entstehen. Ungleiche Erschließung und ungleicher Zugang führen sukzessive zu weiteren raumzeitlichen Ungleichheiten, die zu Ungerechtigkeiten führen, etwa wenn Menschen mit geringerem Einkommen, die in der Peripherie wohnen oder in Schichtarbeit tätig sind, auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen und besonders von diesen Lücken betroffen sind.
Das planerische Ziel einer Stadt der kurzen Wege für alle wird verfehlt, wenn Substitution zu Torsion führt. Um Mobilität und mobile Optionen gerecht zu realisieren, dürfen Planer neben beschleunigter Mobilität auch die Notwendigkeit einer sozial gerechten Mobilität nicht aus dem Blick verlieren.
Werden durch neue unterirdische Strecken neue Räume erschlossen, stehen den Nachteilen einer Torsion wertschöpfende Vorteile der Inwertsetzung von Flächen gegenüber, etwa für Wohnungsbau oder Gewerbeflächen. Inwertsetzung ermöglicht unter Umständen eine neue inklusive Zentrumsbildung, um eine Stadt der kurzen Wege an neuen Knotenpunkten zumindest in Teilbereichen zu verwirklichen.
Im Fünf-Finger-Plan bündelt die Stadt Kopenhagen bereits seit 1947 beispielhaft eine moderne Siedlungsentwicklung entlang zentraler Verkehrsachsen. Die Verkehre strecken sich wie Finger (Verkehrslinien) und Knöchel (Orte) in die Fläche aus. Gleichzeitig werden Freiflächen dazwischen freigehalten. Dieses Modell gilt bis heute als vorbildlich in Hinblick auf eine gerechte Siedlungsentwicklung unter ökologisch nachhaltigem Erhalt naturnaher Flächen dazwischen.
„Um Mobilität und mobile Optionen gerecht zu realisieren, dürfen Planer neben beschleunigter Mobilität auch die Notwendigkeit einer sozial gerechten Mobilität nicht aus dem Blick verlieren.“
Zeitwohlstand, Inklusion, Nachhaltigkeit gehen Hand in Hand
Seit einigen Jahren rücken das Prinzip Zeitwohlstand sowie inklusive und ökologisch nachhaltige Infrastrukturen weltweit in den Fokus. Das planerische Leitbild einer zeitgerechten Stadt nimmt nicht nur Raumressourcen, sondern auch Zeitressourcen in den Blick. Es ermöglicht zukunftsgerechtere Städte und gerechter verteilte Infrastrukturen, weil auch Zeitwohlstand und Zeitautonomie als Prinzipien für Verteilungsgerechtigkeit berücksichtigt werden.
Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit bilden die Grundlage, um Infrastrukturen als Lebensadern einer zeitgerechten Stadt zu ermöglichen, an der alle partizipieren können. Sie sollten eine Rolle spielen, sobald es um die soziale und zeitgerechte Gestaltung von zukunftssicheren Infrastrukturen geht.
Prof. Dr. Caroline Kramer
ist Professorin für Humangeographie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Kramer forscht und lehrt zu stadt- und bevölkerungsgeographischen Themen. Sie legt ihren Schwerpunkt auf die „zeitgerechte Stadt“, deren Ziel es ist, Zeitwohlstand und Zeitautonomie der Bewohner zu ermöglichen und zu sichern. Mobilitätsangebote spielen für die Raum-Zeit-Gerechtigkeit in der Stadt eine wichtige Rolle.
Prof. Dr. Dietrich Henckel
ist emeritierter Professor für Stadt- und Regionalökonomie am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin. Henckel nennt sich selbst einen leidenschaftlichen Urbanisten und Stadtforscher. Gemeinsam mit seiner Kollegin Professorin Caroline Kramer befasst sich Henckel intensiv mit dem Thema „zeitgerechte Stadt“. Zudem forscht er über wirtschaftlichen Strukturwandel, Zeit und Stadtentwicklung, die Nacht in der Stadt und künstliche Beleuchtung.
Bildquelle Bühne: © Rodrigo Kugnharski / Unsplash