Zukunftsgerichtete Stadtentwickung

Vielschichtiges London

Lesezeit: 9 Minuten | September 2021

London: Hier gründeten Menschen bereits vor über 2.000 Jahren erste Siedlungen, was die Stadt heute zu einer der ältesten Hauptstädte Europas macht. Ursprünglich gerade mal eine Quadratmeile groß, erstreckt sie sich mittlerweile über eine sechshundertmal größere Fläche und ist das Zuhause von fast 9 Millionen Menschen geworden. London, die Stadt, die niemals ruht, die seit Jahrtausenden wächst und sich wieder und wieder umgestaltet und neu formt, um sich den wandelnden Bedürfnissen ihrer Bewohner anzupassen.

Das Leben in London ist schnell. Die Menschen hasten über die Gehwege, in die U-Bahnstationen, springen in Busse und Taxen. Mancher würde seine Schritte vielleicht mit mehr Bedacht wählen, wenn er sich des Untergrundes unter seinen Füßen bewusster wäre: ein weitverzweigtes Labyrinth aus Tunneln und Schächten, Flüssen und Bächen, Leitungen und Kabeln, in allen Größen und aus unterschiedlichsten Epochen, sich durch den Boden schlängelnd, dabei eine so dichte wie unsichtbare Welt erschaffend.

Instinktiv spüren die meisten Londoner wohl, dass ihre Stadt nicht an der Erdoberfläche aufhört. Schließlich nehmen Millionen von ihnen Tag für Tag die Treppen und Rolltreppen und Fahrstühle hinunter zu den mehrere 10 Meter tief verlaufenden Bahnsteigen der „Tube“. Wenige allerdings realisieren, wie sie sich dabei durch vorzeitliche Schichten bewegen. Vom Stoßzahn eines Rhinozerosses, das die Gegend vor 60.000 Jahren durchstreifte, bis zu den Überresten römischer Tempel – Londons Untergrund gleicht einem lebendigen Geschichtsbuch, dessen Kapitel über Jahrtausende geschrieben wurden, immer komplexer von Seite zu Seite. Und je tiefer wir steigen, umso altertümlicher lesen sich die Geschichten.
 

Lehm und Ton – Schlüssel zur Londons Stadtentwicklung

Geologisch liegt die Stadt auf einem Becken, das sich vor 65 Millionen Jahren bildete, mit einem Grundgestein aus Kalk, überlagert von Ton-, Sand- und Kiesschichten. Mächtigkeit und Tiefe der einzelnen Schichten variieren im Stadtgebiet und bilden eine komplexe Oberflächengeologie, die von der Gletscher- und Schwemmland-Vergangenheit der Region zeugt. Die Tonschicht gilt dabei als die geologisch wichtigste. Der so genannte London Clay ist zu weich, um riesige Wolkenkratzer zu tragen. Dafür eignet er sich hervorragend für den Tunnelbau. Das ermöglichte es bereits den Pionieren der viktorianischen Epoche, den Untergrund zu erobern. Bis heute werden Londoner Tiefbauprojekte vorzugweise hier gebaut. Die U-Bahn, die London Power Tunnels, Straßentunnel und Crossrail als jüngste Erweiterung des unterirdischen Schienennetzes – alle winden sich durch Lehm und Ton.

Die Fortschritte in der Tunnelbautechnologie ermöglichen mittlerweile immer größere Tiefen. Der Thames Water Ring Main – eine Schlüsselkomponente der Londoner Wasserversorgungsinfrastruktur – liegt in einer Tiefe von 40 Metern. Einige Abschnitte reichen sogar bis 60 Meter in eine Sandschicht, die unter dem Lehm liegt. Mit 70 Metern unter der Oberfläche ist der Lee-Tunnel derzeit die tiefste Stelle in der Stadt, der 2012 bis 2014 mit einem Herrenknecht-Mixschild durch porösen Kalk gebohrt wurde.

Unsichtbar unter der Erde erinnern diese Bauten an das Nervensystem des menschlichen Körpers: Kabelsysteme, durch die Lichtimpulse und Elektrizität zucken; Tunnelröhren, durch welche U-Bahnen schießen; Kanalleitungen aus Beton, Ziegelsteinen, oder Plastik, in denen Wasser wie Abwasser fließen – sie alle winden und kreuzen sich unter Londons Straßen und machen die Stadt zu dem, was sie ist. Die Erde dazwischen zeugt davon, was die Stadt einst war.

Londons verschwundene Flüsse

Jahrhundertelange Bau- und Abbrucharbeiten sowie eine sich ständig ändernde Landnutzung haben den Untergrund der Stadt in unterschiedlichem Maße zusammengepresst und verdichtet. An den Stadträndern lassen sich bereits drei Meter unter der Erde archäologische Funde machen. Im Herzen der Stadt, wo einst die früheste römische Siedlung Londinium stand, müsste man dagegen rund zwölf Meter tief graben, um an altertümliche Zeugnisse zu gelangen. Das hat mit Londons „verschwundenen Flüssen“ zu tun.

„London war ein ziemlich wasserreicher Ort, bevor es bebaut wurde. Die Themse verzweigte sich in viele Nebenflüsse, die heute größtenteils nicht mehr sichtbar sind“, sagt Sophie Jackson, Direktorin der Entwicklungsabteilung des Museum of London Archaeology (MOLA). „Einer davon namens Walbrook floss durch Londinium. Als die Stadt wuchs, wurden seine Flussufer verstärkt und das Land auf beiden Seiten aufgeschüttet. Dies wiederholte sich nach jeder Überschwemmung. Dabei wurden Gebäude häufig abgerissen und neue errichtet“. Auf diese Weise wuchs London allmählich in die Höhe. Und die einst an der Oberfläche strömenden Flüsse und Bäche wurden Zug um Zug überbaut und bildeten das erste Abwassersystem Londons. Wer sich auf die Suche begiebt, findet hier und da noch ihre Namen. Die Fleet Street etwa, traditionell die Heimat der britischen Presse, ist nach dem hier unterirdisch kanalisierten Fluss Fleet benannt. Auch die Effra Road im südlichen Londoner Stadtbezirk Lambeth folgt dem Verlauf des gleichnamigen verschwundenen Flusses. Nicht alle diese Nebenflüsse sind derart unzugänglich. Der Westbourne-Fluss etwa wird immer noch durch einen großen Eisenkanal geleitet, der am Bahnhof Sloane Square hoch über den U-Bahn-Gleisen verläuft.

Im Rahmen des größten Tiefbauprojekts des viktorianischen Zeitalters nutzte der Ingenieur Joseph Bazalgette diese Flüsse zum Bau unterirdischer Abwassersammler. Er schuf ein riesiges, aus Ziegelstein gemauertes Kanalisationsnetz, um die Londoner Abwässer zu sammeln und abzuleiten. Dieses Meisterstück der Infrastruktur katapultierte die Stadt ins 19. Jahrhundert und wird bis zum heutigen Tag genutzt. Da die Bevölkerung Londons allerdings weit stärker wuchs, als Bazalgette vorhersehen konnte, war das Netz den neuen Anforderungen schnell nicht mehr gewachsen. Was bedeutet, dass ein Großteil des Abwassers bis heute in die Themse geleitet wird. Selbst heute, im Jahr 2020, sind es im Durchschnitt 62 Millionen Kubikmeter pro Jahr!

62 Mio. m3

Abwasser werden immer noch jährlich (ungeklärt) in die Themse eingeleitet. Das entspricht etwa der Füllung von 24.800 olympischen Schwimmbecken.

Der Thames Tideway Tunnel – Infrastruktur der Superlative

Die Lösung: 2016 wurde mit dem Bau eines neuen, tiefer liegenden Tunnelsystems begonnen, dem so genannten Thames Tideway. Nach seiner Fertigstellung wird dieser Superkanal dafür sorgen, dass ein Großteil des Abwassers nicht mehr die Themse erreicht und Londons Wasserwege für künftige Generationen sauberer werden.

Einen Großteil seiner Strecke folgt der Tideway-Tunnel dem Verlauf der Themse, beginnend in Acton im Westen, bevor er in Abbey Mills im Osten Londons auf den Lee-Tunnel trifft. Drei Herrenknecht-Tunnelbohrmaschinen (TBM) wurden bzw. werden für das Projekt eingesetzt – Rachel und Selina für den Haupttunnel und Annie für einen Verbindungstunnel von der Pumpstation in Greenwich aus. „Es ist das größte Infrastrukturprojekt, das je von der britischen Wasserindustrie durchgeführt wurde“, sagt Martin Griffiths, Senior Community Relations Manager bei Tideway East. „Von all den Projekten, an denen ich gearbeitet habe, begeistert mich dieses am meisten. Es wird die Wasserqualität des Flusses verbessern und ist eine technische Glanzleistung“. Griffiths, der bei dem Joint Venture der Bauunternehmen Costain, Vinci Construction Grands Projets und Bachy Soletanche beschäftigt ist, übertreibt nicht. Mit mehr als einem Dutzend vertikaler Schächte, die auf einer 25 Kilometer langen Strecke gebaut wurden und von denen einige bis zu 66 Meter in die tiefen Kalkschichten vorgetrieben wurden, ist der Umfang des Projekts enorm.

Neue archäologische Funde werden sichtbar

Insbesondere der Bau der Schächte lieferte viele zusätzliche Momentaufnahmen von Londons Evolution. So gruben Archäologen in der Nähe der berühmten Battersea Power Station einen prähistorischen Verlauf der Themse aus, woraus sich Klimaveränderungen und Sturmereignisse ablesen ließen. An anderer Stelle des Tideway-Projekts legten MOLA-Archäologen eine Vielzahl an wertvollen Funden frei, von einem Schlüsselanhänger aus der sogenannten Tudor-Zeit bis hin zu kunstvoll gearbeiteten mittelalterlichen Säulen. Der vielleicht eindrucksvollste Fund ist das auf 600 Jahre alt geschätzte Skelett eines Mannes, der mit dem Gesicht nach unten im Schlamm lag und noch immer Lederschaftstiefel trug. „Dieser Fund fängt einen Moment einer längst vergangenen Zeit ein“, sagt Jackson. „Irgendetwas ist mit diesem jungen Mann geschehen. Es scheint sehr unwahrscheinlich, dass er absichtlich begraben wurde. Und nun stehen wir hier, 600 Jahre später, und versuchen, etwas über seine Geschichte zu erfahren.“

„Dies ist das größte Infrastrukturprojekt, das die britische Wasserwirtschaft je durchgeführt hat.“

Martin Griffiths, Senior Community Relations Manager von Tideway East.

Ausgrabungen in London – Teamarbeit von Ingenieuren und Archäologen

Heutzutage ist es Standard, dass bei Tunnel- und Bauprojekten in alten Städten wie London auch Archäologen an der Seite von Ingenieuren arbeiten. Tideway ist eines der jüngeren einer ganzen Reihe von Beispielen. Im Jahr 2018 etwa begann ein Team von über 200 Archäologen mit der Exhumierung Tausender Leichen von einem alten Friedhof, auf den man in der Nähe des Bahnhofs Euston, dem geplanten Endpunkt einer neuen Bahnlinie, gestoßen war. Das Projekt mit dem Namen High Speed 2 (HS2) wird London noch besser mit den großen Städten Nordenglands verbinden.

Da bekannt war, dass die Route des unterirdischen Eisenbahnprojektes Crossrail durch eine Reihe von historisch bedeutsamen Gebieten führen würde, bezog das Crossrail-Team von Anfang an Archäologen mit ein und wurde dafür mit Entdeckungen belohnt. Beim Bau zweier einspuriger Tunnelröhren unter Einsatz von acht Herrenknecht-TBM wurden etwa 40 Ausgrabungsstätten ausgemacht. Zehntausende dabei freigelegter Artefakte umspannen 55 Millionen Jahre Londoner Geschichte und Vorgeschichte. Ein Musterbeispiel an Teamarbeit: Während Ingenieure den Londoner Verkehr zukunftssicher machen, entdecken Archäologen die Vergangenheit der Stadt.

Die professionelle Zusammenarbeit zwischen den beiden Berufen ist noch relativ jung. „Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Stadtarchäologie eher eine antiquarische Tätigkeit, die von begeisterten Forschern oder wohlhabenden Sammlern betrieben wurde. Die systematische Herangehensweise an Ausgrabungen begann mit der Behebung von Bombenschäden nach dem Krieg. Doch erst Anfang der 1990er-Jahre wurde die Archäologie zu einem formellen Bestandteil der Planungsprozesses von großen Bauprojekten,“ lautet Jacksons Rückblick. Seitdem haben einige der größten Ingenieurprojekte auch zu den wichtigsten archäologischen Funden geführt.

Der wohl bedeutendste Fund der vergangenen Jahre war dabei auch der kleinste – ein Bakterium. Archäologen fanden 2013 im Zuge des Crossrail-Projektes 25 Skelette in einem Bauschacht in der Nähe des Bahnhofs Farrington. Als Zahnproben auf das Vorhandensein historischer DNA getestet wurden, fanden sie Yersinia pestis, einen Erreger, der die erste große Pestepidemie in Europa verursacht hat – den Schwarzen Tod von 1348. Interessanterweise wurden auch rund 100 Jahre jüngere Skelette mit dem Bakterium gefunden. Bei einer weiteren früheren Ausgrabung im Rahmen des Crossrail-Projekts an der U-Bahn-Station Liverpool Street hatte man bereits ein Massengrab mit Opfern der Großen Pest von 1665 entdeckt. Nachdem das Bakterium Yersina pestis nun an unterschiedlich alten Leichen gefunden wurde, fiel die Entscheidung, auch die Funde von der Liverpool Street nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen. Tatsächlich wurden an 20 getesteten Leichen Spuren von Yersinia pestis nachgewiesen, was bestätigt, dass dieser Krankheitserreger nicht nur im 14. und 15. Jahrhundert, sondern auch bei der Seuche im 17. Jahrhundert eine Rolle spielte. Zum ersten Mal konnten diese losen Fäden miteinander verknüpft und damit neue Erkenntnisse über Geschichte der großen Pestepidemie gewonnen werden.

„Im Fahrwasser der größten Bauprojekte wurden oftmals auch die wichtigsten archäologischen Funde gemacht.“

Sophie Jackson, Leiterin der Abteilung Developer Services im Museum of London Archaeology (MOLA).

Doch archäologische Funde tragen nicht nur zur Erweiterung des akademischen oder medizinischen Wissens bei. Sie helfen darüber hinaus dabei, große Bauprojekte mit der Bevölkerung vor Ort zu verbinden. „Die Menschen hören gern von Entdeckungen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, sei es eine Kanonenkugel aus dem Tower of London oder ein Lederstiefel“, sagt Griffiths. „Beim Tideway-Projekt haben wir Treffen zwischen Anwohnern und MOLA-Archäologen organisiert, die jedes Mal mit Fragen regelrecht bombardiert werden. Diese Funde stellen einen realen, greifbaren Bezug zur Vergangenheit in ähnlicher Weise her, wie der Tunnel die Menschen mit der Zukunft Londons verbindet.“ Ganz gleich, ob es sich um Abwassersysteme oder eine schnelle Verkehrsverbindung handelt: Bei Infrastrukturprogrammen geht es meist um moderne Technik, die auf die Verbesserung der Lebensqualität abzielt. An einem dicht besiedelten Ort wie London haben sie aber einen wichtigen Nebeneffekt: Durch die Einbindung von Archäologen, die die Geschichte Schicht für Schicht akribisch entschlüsseln, helfen diese Projekte, die Vergangenheit besser zu verstehen und Verbindungen zu Menschen aus längst vergangenen Leben zu knüpfen. Wer demnächst in einen Tunnel fährt, mag darüber nachdenken.

55 Mio.

Jahre Londoner Geschichte und Vorgeschichte lassen sich an Zehntausenden Artefakten ablesen, die das Crossrail-Projekt zutage brachte.

Fünf Fakten zum alten Londinium

Londinium hieß die von römischen Legionen am Nordufer der Themse im Jahr 47 n. Chr. errichtete Siedlung. Heute umfasst dieses Gebiet die City of London, das Finanzzentrum der modernen Metropole.

Nach wiederholten Angriffen keltischer Stämme bauten die Römer rund um Londinium eine große Verteidigungsmauer mit vier Haupttoren: Bishopsgate und Aldgate im Nordosten und Newgate und Ludgate im Westen. Trotz der unzähligen Veränderungen, die die Stadt seither durchlaufen hat, erscheinen all diese Ortsnamen noch heute auf modernen Karten.

410 n. Chr. zogen sich die Römer aus Britannien zurück und& verließen Londinium. Die zurückbleibenden Angelsachsen errichteten ein neues Handelszentrum außerhalb und westlich der Stadtmauern. Dieses damals Lundenwic genannte Gebiet ist das heutige Covent Garden, ein modernes Einkaufs- und Unterhaltungszentrum.

Während des zweiten Weltkriegs wurden große Teile der City of London durch deutsche Bomben-Angriffe zerstört. Bei der Behebung der Zerstörungen wurden unbekannte römische Stätten entdeckt. Die wichtigste Entdeckung war ein großer Tempel, der dem Gott Mithras geweiht war. Erneute Ausgrabungen an dem heute als ‚London Mithraeum‘ bezeichneten Tempel im Jahr 2013 brachten 10.000 Artefakte zutage.

Im Rahmen des Crossrail-Projekts werden viele bemerkenswerte römische Funde nahe der U-Bahn-Station Liverpool Street gemacht, die sich in der dichten Tonschicht gut erhalten haben. Unter anderem 20 menschliche Schädel sowie Hunderte Münzen, Scherben verzierter Keramik, Schmuck, Ledersandalen und Hufeisen.

Die Autorin,
LAURIE WINKLESS

Laurie Winkless ist eine irische Physikerin und Autorin. Nach ihrem Studium und ihrer Promotion arbeitete sie am National Physical Laboratory in Großbritannien als Forscherin, wo sie sich auf Funktionswerkstoffe spezialisierte. Laurie Winkless lebt jetzt in Neuseeland und vermittelt seit 15 Jahren Wissenschaft an eine größere Öffentlichkeit. Sie hat u. a. mit wissenschaftlichen Instituten, Ingenieurunternehmen, Universitäten und Astronauten zusammengearbeitet. Ihre Artikel wurden u. a. in den Zeitschriften Forbes und Wired veröffentlicht. Sie hat zwei Bücher geschrieben: Science and the City (Okt. 2016) und Sticky (Nov. 2021), die beide weltweit bei Bloomsbury erschienen sind.

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